Von 14. – 18. April reisten 45 StipendiatInnen zusammen mit dem Team sowie Bill und Maude Dearstyne nach Berlin, um sich intensiv mit Politik auseinanderzusetzen. An vier Tagen konnten die SchülerInnen in zahlreichen Workshops und im Stadtbild selbst den historischen Weg Deutschlands von der Diktatur des dritten Reichs, über die zweite deutsche Diktatur der DDR und des geteilten Deutschlands bis hin zur parlamentarischen Demokratie heute nachvollziehen.
Nach einem kulturellen Start in die Woche – wir waren auf der Museumsinsel, im DDR-Museum sowie dem Deutschen historischen Museum – ging es am Dienstag bereits mit einer großen Herausforderung los: Die Jugendlichen versetzen sich im Planspiel des deutschen Bundestages in die Rolle von Parlamentariern, bekamen dafür fiktive Lebensläufe zugeteilt und diskutierten anschließend „wie in echt“ als VertreterInnen der derzeit im Bundestag vertretenen Parteien einen neuen Gesetzesvorschlag bis hin zur Abstimmung. „Ich habe den Besuch in den Bundestag wirklich genossen. Ich bin eigentlich kein Politikmensch, aber endlich habe ich die Gesetzgebung durch das Planspiel, welches wir als Abgeordnete vollziehen durften, verstanden.“, so Stipendiatin Sümeyra.
Und Mehanaz, Bundestagspräsidentin für einen Vormittag, führt aus: „Nach dem Organisatorischen begann es auch schon mit der ersten Fraktionssitzung, bei der alle Fraktionen ihre persönlichen Positionen miteinander besprachen und eingeteilt wurde, wer in welchem Fachausschuss sitzen sollte. Auch musste die die personenstärkste Fraktion, in unserem Fall die CVP, den/die BundestagspräsidentIn stellen. So wurde ich von meiner Fraktion aufgestellt und in der anschließenden ersten Plenardebatte zur Bundestagspräsidentin gewählt. Meine Aufgabe war es jedoch lediglich die Gesetzesvorschläge vorzulesen und zu bestimmen, wer wann, wie lange, seine Rede halten durfte. Auch wurde dort der Gesetzesentwurf bezüglich Alkoholverbot für Jugendliche an die drei Ausschüsse (Wirtschaft, Recht/Verbraucherschutz sowie Familien, Senioren, Frauen und Jugend) weitergegeben. Nach dieser Plenardebatte fanden Verhandlungen in den Ausschüssen statt. Diese erarbeiteten Stellungnahmen wurden in die zweite und letzte Fraktionssitzung gebracht, bei der es noch letzte Verhandlungen mit anderen Fraktionen gab und auch eine Rede für die Abschlussplenardebatte geschrieben wurde. Die Plenardebatte bestand aus der zweiten und dritten Lesung, bei denen SprecherInnen verschiedener Fraktionen Stellung nahmen und Änderungsvorschläge gestellt werden können. Danach wurde abgestimmt. Uns wurde natürlich auch klar gemacht, dass dieser ganze Prozess, den wir in 3 Stunden durchgespielt hatten, in Wirklichkeit mehrere Monate dauert.“
Als Abschluss dieses Tages besuchte die Gruppe am Abend noch das Stück „Süpermänner“ im Theater Ballhaus Naunynstraße, bekannt als eines der ersten „postmigrantischen“ Theater in Deutschland. Nach einer ersten Irritation, da das Hinterhoftheater nicht ganz den Vorstellungen und Erwartungen entsprach, war die Begeisterung jedoch groß: „Dort angekommen wirkte das Theater etwas heruntergekommen. Doch drinnen angekommen wurde man von der warmen Atmosphäre des kleinen Alternativtheaters erfasst. Zum Stück: 5 Türkische Männer erzählen ihre Lebensgeschichten, von Filmdirektoren bis zu Häftlingen, und brechen somit die Stereotypen der ,,türkischen Machomannes” und geben nebenbei auch einen Einblick in die türkische Kultur. Nach dem Stück durften wir den Schauspielern noch Fragen stellen die sie mit großer Freude ehrlich beantworteten. Daumen hoch!:)“ (Ema)
Der Mittwoch Stand unter dem Thema „Anderssein im Dritten Reich – Nationalsozialismus, Verfolgung und Widerstand“ und begann mit einem Besuch in der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen. In drei verschiedenen Workshops konnten die StipendiatInnen sich vertiefend mit dem KZ als historischer Ort, der Situation von Kindern und Jugendlichen im KZ oder Kunst und Kultur als Überlebensformen auseinandersetzen. Ein Rundgang über das Gelände mit vielen allgemeinen Informationen aber auch zahlreichen Details aus dem großen Wissens- und Erfahrungsschatz der WorkshopleiterInnen stand am Anfang aller Workshops. Anschließend wurden in Kleingruppen anhand von Biografien einzelne Aspekte der Gefangenschaft erarbeitet und der Gruppe vorgestellt. Sowohl der Ort selbst, als auch die Auseinandersetzung mit einzelnen persönlichen Schicksalen hat bei den StipendiatInnen bleibenden Eindruck hinterlassen, wie der folgende Bericht von Snežana verdeutlicht: „Die Mauern, Stacheldrähte, Warnungen und Wachtürme im KZ Sachsenhausen zeigen uns, unter welcher Beobachtung und Gefangenschaft die Häftlinge gelebt haben. Der Satz beim Eingangstor „Arbeit macht frei“ nimmt jeden sofort mit und gibt Gründe zum Nachdenken. Es zeigt auf, mit welchen Gedanken die SS-Leute manipulieren wollten. Kann man durch Arbeit frei sein? Oder fällt man immer weiter in ein tiefes Loch bis in den Tod. Die jetzige Leere, wo früher Baracken standen, und jeder einzelne Sonnenstrahl an diesem Tag, haben die Quälereien und Erniedrigungen der Gefangenen für die Zuhörer erträglicher gemacht. Mit diesen heftigen Sachen konfrontiert zu werden ist nicht leicht, wenn man bedenkt, dass einige Menschen in anderen Ländern auch in Gefangenschaft gehalten werden. Jedoch nicht so, wie in einem KZ, was einen Grund zur Beunruhigung liefert. In eine Baracke mit über 200 Leuten zusammengesteckt zu werden, oder die Gefangenschaft in einer Isolationszelle zu verbringen… Diese Möglichkeiten gab es damals. Sowohl bei Hitze als auch Kälte. Die Foltermethoden der damaligen Zeit sind für uns heute nur schwer vorstellbar. Gequält zu werden, obwohl man nichts weiß, als „Versuchskaninchen“ für Waffen, Medikamente betrachtet zu werden oder sogar Schuhe mit 15 kg schweren Säcken auf dem Rücken zu testen, ist unmenschlich und moralisch nicht vertretbar. Die Ermordung und die Tötungsmethoden, die durch eine banale Arztuntersuchung angeleitet wurden, nur um sie entweder sofort in die Gaskammer oder in den Erschießungsraum zu führen, waren für mich schockierend und den Beweis- die Trümmer mit eigenen Augen zu sehen. Die Überreste dieses KZs zeigen uns bis heute, dass wir nicht vergessen sollten, was sich früher abgespielt hat, und welche Qualen jeder einzelne Häftling in jedem KZ ertragen musste. Ich fand die Führung und den Rundgang durch das ganze KZ Sachsenhausen sehr informativ und lehrreich. Durch unsere vielen Fragen und die wenige Zeit, konnte nicht jede beantwortet werden. Aber die Eindrücke die wir sammeln durften, werden wir durch Fotos und die Gespräche nicht vergessen.“
Nach einem längeren Mittagsessen, das für den Austausch über den Vormittag und für eine verdiente Pause genutzt wurde, ging es am späteren Nachmittag noch ins jüdische Museum, um sich mit weiteren Aspekten der Zeit des dritten Reichs und der Verfolgung von Juden als religiöser Minderheit auseinanderzusetzen. Wiederum in drei Wahlworkshops wurden nun Gemeinsamkeiten verschiedener religiöser Traditionen (Judentum, Islam und Christentum) herausgearbeitet, die Frage nach Anpassung und Selbstbestimmung jüdischer BürgerInnen im historischen Deutschland diskutiert sowie anhand der Biographie des Jazzmusikers Coco Schumann nachvollzogen, inwieweit „Überleben mit Musik“ funktionieren kann. Und auch die berühmte Architektur hat Eindruck hinterlassen: „Das jüdische Museum hat mir am besten in Berlin gefallen, da es mich architektonisch begeistert hat und mich auch inhaltlich überzeugt hat. Das Museum wird unterirdisch betreten und dann hat man die Möglichkeit zwischen zwei Wegen zu wählen, die der Entscheidung der Juden während dem Holocaust ähneln. So führte der eine Weg in einen Raum, der hoch, grau und vorne hin immer spitzer wird. In diesem Raum ist ebenfalls eine Leiter die scheinbar nicht zu ergreifen ist, man fühlt sich verloren und in die enge gezwungen. Der andere Weg führt zu der Ausstellung. In unserem Workshop haben wir uns nur mit einem sehr kleinen Teil der Ausstellung beschäftigt, aber dafür ausführlicher und es blieben am Ende keine Fragen offen.“ (Mierna)
Nach einem freien Abend bildete am Donnerstag das Thema „DDR und das geteilte Berlin“ den Abschluss. Amela zeigt sich besonders beeindruckt vom Besuch im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen: „Das Stasigefängnis ist nicht nur ein verlassenes, altes und graues Gebäude, nein, es ist ein Gebäude, das eine Geschichte erzählt. Es ist ein Ort, der viel Folter mitansehen musste und es ist ein Ort, der Zeuge von schlimmen Verbrechen ist. Durch die Erzählungen eines Zeitzeugen können wir uns nun vorstellen, welch grausame Taten dort passierten.“ Und auch Lisa betont die besondere Qualität dieses Workshops durch die sehr persönliche Vermittlung der Inhalte durch Zeitzeugen: „Die Führung in Hohenschönhausen hat mich echt beeindruckt, es ist echt viel hängen geblieben und dadurch das der Führer ein Zeitzeuge war kam das einem viel näher.“ Das erfolgreiche Konzept „Geschichtsvermittlung durch ZeitzeugInnen“ begleitete eine Gruppe auch durch den Nachmittag. Im Museum des ehemaligen Stasi-Hauptquartiers lernten die StipendiatInnen im Gespräch mit einem Zeitzeugen mehr über den Aufbau der SED-Diktatur und ihres Geheimdienstes. Unter dem Titel „Unterdrückung und Widerstand in der DDR“ erhielten wir viele anschauliche Informationen zum Alltag in der DDR, dem Ausmaß der Unterdrückung der Bevölkerung mittels Agenten und Bevölkerung sowie auch originaler Operativtechnik und den schwierigen Versuchen, Widerstand zu leisten. Abschließend wurden auch die Ereignisse, die letztendlich zum Mauerfall führten nachvollzogen. Die Berliner Mauer stand im Mittelpunkt des zweiten Nachmittagworkshops in der Gedenkstätte an der Bernauer Straße. Dort begaben sich die Jugendlichen auf fotografische Spurensuche entlang des ehemaligen Grenzstreifens. Ausgestattet mit historischen Fotos suchten sie die Originalschauplätze auf, verglichen Perspektiven und Aussehen des Ortes und lernten so nicht nur viel über Berlin, in das die Teilung auch heute noch wahrnehmbar eingeschrieben ist, sondern auch über Fotografie als Methode „Realität“ abzubilden. Ungeplantes Highlight: Maude Dearstyne, die zu Beginn der 1960er selbst in Berlin lebte, hatte eigene Fotografien von damals dabei, begab sich ebenfalls auf die Suche nach diesen Orten heute und lies die StipendiatInnen daran teilhaben. So wurden die Bilder und Orte für die StipendiatInnen nicht nur als historische Artefakte, sondern auch in Form ganz persönlicher Geschichte lebendig.
Den Abschluss bildete ein gemeinsames Abendessen, bei dem wir die Woche noch einmal Revue passieren ließen, noch offene Fragen besprechen konnten und das Team Anregungen und Tipps für die nächste Reise 2015 sammelte.
Berlin ist definitiv eine Reise wert und das Besondere der START-Gruppe, wurde auch hier wieder einmal spürbar, findet auch Stipendiatin Mehanaz: „Diese zwar wirklich von vorne bis hinten durchgeplante und stressige Woche war eines der informativsten und lehrreichsten Seminare bisher. Zwar wusste ich schon viel vom Geschichtsunterricht und Vorbereitungsworkshop, dennoch ist es anders, alles an den Orten zu erfahren, an denen es stattgefunden hat, als irgendwo dazusitzen und sich mit Informationen „berieseln“ zu lassen. Auch habe ich nicht nur viel Wissen erhalten, sondern auch einige StipendiatInnen aus anderen Bundesländern näher kennengelernt. Diese Woche hat uns definitiv enger zusammengeschweißt. Obwohl ich eine bekennende Langschläferin bin, war es mir möglich trotz der frühen Uhrzeiten immer topmotiviert zu sein. Verantwortlich dafür war auf der einen Seite die neue und aufregende Stadt Berlin, die überhaupt nicht so war, wie ich sie mir vorgestellt hatte, auf der anderen Seite die liebenswerten StipendiatInnen, die man zum Teil nur jedes halbe Jahr sieht.“